Eine der berühmtesten Straßen der Welt wird 40: die "Sesamstraße". Am 10. November 1969 wurde das Original "Sesame Street" zum ersten Mal in den USA gezeigt. Seit 1973 sind Bibo, das Krümelmonster sowie Ernie und Bert als Stars der Kindersendung auch in Deutschland zu sehen."Psst! Hey, du!" - "Wer, ich?" - "Pssssst. Willst du ein ,S' kaufen?" - "Ein ,S'"? - "Genaaaauuuu ..."
Der Dialog zwischen dem grünen Mann und seinem orangefarbenen Opfer ist wohl jedem Menschen von vier bis 100 Jahren in der westlichen Hemisphäre präsent.
Kindersendungen gibt es viele - doch die "Sesamstraße" brannte sich ins Bewusstsein mehrerer Generationen ein. Und nun feiert sie ihren 40. Geburtstag: Am 10. November 1969 wurde die erste Folge in den USA ausgestrahlt.
Dem Erfinder des Konzepts kommt die Idee an einem Dezembermorgen 1965. Da findet der Psychologe Lloyd Morrisett seine dreijährige Tochter, wie sie fasziniert auf das TV-Testbild starrt. Für ihn ein Zeichen: Das Fernsehen erscheint ihm als ideales Instrument, um Kleinkinder zum Lernen zu stimulieren.
Er wendet sich an eine Bekannte, TV-Produzentin Joan Ganz Cooney. Die ist begeistert: "Bildungsexperten hatten bis dahin den Intellekt von Vorschulkindern völlig ignoriert." Das radikal Neue: Die Sendung richtete sich, vor allem in der US-Version, an Kinder aus sozial schwächeren Familien. An Kinder, die auf Pflasterstein-Straßen spielten, umgeben von rauchenden Gullys, wasserspeienden Hydranten und scheppernden Mülltonnen. Es waren die Straßen New Yorks und eben nicht die der gepflegten Vorstädte mit ihren Rasenflächen und Basketballkörben.
Unter den Bewohnern der Sesamstraße befanden sich Muppets und Menschen, Schwarze und Weiße, Asiaten und Hispanics, Jazz-Freaks und normale Bürger. Herr Huber zum Beispiel, ein freundlicher Herr, der einen kleinen Laden betrieb. Oder Gordon, ein Lehrer mit Afro-Locken, und seine Frau Susan. Ferner Bibo, ein gelber Vogel. Und in einer Mülltonne hauste Oskar: "Ich mag Müll. Alles was schmutzig ist, stinkig und dreckig".
Cooney war es gelungen, den Puppen-Erfinder Jim Henson zu gewinnen. Für die "Sesamstraße" kreierte er eine Truppe liebenswerter und eigenwilliger Charaktere: Darunter das Freundespaar Ernie und Bert, das verschiedener nicht sein könnte: Ernie, der fröhliche Anarchist, und Bert, der Stoiker mit Leidenschaft für Papierschnitzel und Tauben. Außerdem das Krümelmonster, das Kekse, Buchstaben und Zahlen in sich hineinstopft. Und natürlich Kermit der Frosch, stets aufgeräumt, manchmal altklug und trotz seiner schmächtigen Gestalt die grün-graue Eminenz der Truppe. Genäht aus dem Wintermantel von Hensons Tante.
In der "Sesamstraße" lebte man nach den Prinzipien von Optimismus, Toleranz und "Diversity" - ethnischer Vielfalt - lange bevor diese Werte zum Standardprogramm der Politik werden sollten: Eltern und Medienkritiker liebten oder hassten diese swingende Straße, dazwischen gab es wenig. Der US-Medienwissenschaftler Neil Postman schrieb, die "Sesamstraße" "entbinde Eltern von der Verantwortung, ihren Kindern das Lesen beizubringen".
Joan Cooney und ihr Team fanden in der Entwicklungsphase eine zweifelnde Nation vor: Dass Jimmy Hendrix öffentlich Gitarren zertrümmerte, mochte ja fast noch angehen - aber auch Rassenunruhen in Washington, Baltimore, Cleveland und Chicago erschütterten das Land. Und als die Sendung an den Start ging, lag die Ermordung von Martin Luther King Jr. erst ein gutes Jahr zurück.
Dass Schwarze und Weiße wie in der Sesamstraße selbstverständlich neben- und miteinander lebten, war für viele Amerikaner ein Unding. In Mississippi organisierten Eltern Protestdemos, und der Bundesstaat verbannte die "Sesamstraße" vom Äther - 22 Tage lang. Dennoch, oder gerade deshalb, war der Erfolg überwältigend: Nur wenige Monate nach ihrem Start war die "Sesamstraße" die meistgesehene Kindersendung in Amerika.
Mittlerweile umspannt die "Sesamstraße" die ganze Welt, über alle ideologischen Grenzen hinweg führt sie von Harlem bis Honolulu, von Riad bis Reykjavík. Ein globales Projekt - und ein amerikanischer Exportschlager. Heute wird die "Sesamstraße" von über 380 TV-Stationen in 140 Ländern ausgestrahlt.
Meist passt sich die Handlung regionalen Gegebenheiten an. Doch nicht überall funktioniert die Botschaft. Der Versuch, eine Nahost-"Sesamstraße" zu starten, koproduziert vom israelischen und palästinensischen Fernsehen, scheiterte. Seit 2006 gibt es nun zwei Versionen: "Rechov Sumsum" für Israel, "Shara'a Simsim" für die Palästinensergebiete.
Selbst in der alten Bundesrepublik sorgte die Sendung für Zwistigkeiten- und zwar bereits vor ihrer Premiere am 8. Januar 1973. Eigentlich sollte sie in der ARD laufen; da aber der Bayerische Rundfunk die Ausstrahlung verweigerte - die "Sesamstraße" spiegele nicht die soziale Realität in Deutschland - lief sie in den dritten Programmen.
Ab 1976 gab es eine deutsche Rahmenhandlung: Gordon, Bibo und Oskar stutzte man zurück; deutsche Erfindungen waren der tollpatschige Bär Samson, der schnippische Vogel Tiffy, der nickelige Herr von Bödefeld (sehr deutsch, der Adel ist Amerikanern suspekt) und später Rumpel, ein harmloser Oskar-Verschnitt. Die deutschen Figuren waren braver, manche Kritiker sagen: unpolitischer. Auch wurde der US-Titelsong ersetzt durch ein lehrreiches Kinderlied: "Wer wie was, wieso weshalb warum? Wer nicht fragt, bleibt dumm". Reformpädagogik statt Music Jam.
Viel wird mittlerweile über das Verhältnis von Ernie und Bert spekuliert, ob die beiden schwul seien, ob gar eine Gruppe homosexueller Künstler eine Botschaft in die Kindersendung eingeschleust habe. Auch Elterngruppen fürchten, Ernie und Bert könnten ihre Sprösslinge auf die falsche Bahn führen.
Im Jahr 2005 verordnete der TV-Sender PBS dem Krümelmonster eine Diät: Seither darf es nur noch Äpfel, Kohlrabi und manchmal einen Vollkornkeks zu sich nehmen. Denn Amerikas Kinder sind zu dick, und die "Sesamstraße" soll mit gutem Beispiel vorangehen. Immerhin hat man sich prominente Hilfe geholt: In der jüngsten Staffel erklärt Michelle Obama, wie man einen Gemüsegarten anlegt.
Und auch US-Präsident Barack Obama verkündet zum Geburtstag: "Die Botschaften der 'Sesamstraße' sind noch immer aktuell - Mitgefühl, Freundlichkeit, Respekt vor den Unterschieden."
Nancy Gibbs, Kolumnistin des Magazins "Time", kam zu einem interessanten Schluss. Die meisten US-Präsidenten, schreibt sie, hätten eine kulturelle Heimat: Ronald Reagan stand für Hollywood, obwohl er im Mittleren Westen aufwuchs. George W. Bush wird auf ewig mit Texas verbunden sein, obwohl er an der Ostküste geboren wurde. Und woher kommt Barack Obama? Aus Kenia oder Kansas, Hawaii oder Harvard? Gibbs Antwort: "Obama ist der erste Präsident aus der 'Sesamstraße'."
Allerdings gehen die Zuschauerzahlen zurück. Die Show ist bei Kindersendungen auf Platz 15 abgerutscht. Es werden nur 26 neue Episoden pro Jahr produziert. Zu Spitzenzeiten waren es 130. Doch wenn einer der ihren nun im Weißen Haus sitzt, hat die "Sesamstraße" einen Teil ihrer Mission erfüllt. Trotzdem sollten Sie, lieber Leser, ab und zu ein "S" kaufen. Nicht nur um der alten Zeiten willen.
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